Marcel
Fürstenau, “Erich Honeckers Knast-Karriere: Vom Opfer zum Täter”, Deutsche Welle, 15/04/2019.
Die Nazis steckten den Widerstandskämpfer Erich
Honecker ins Zuchthaus Brandenburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ der zum
DDR-Staatchef aufgestiegene ehemalige Häftling am selben Ort Regimegegner
drangsalieren.
"War nicht alles schlecht in der DDR." An
diesem Satz scheiden sich auch 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer die
Geister. Für politisch Verfolgte wie Manfred Wilhelm klingt er wie Hohn.
Wenn andere von guten Kindertagesstätten oder einem schönen Ostsee-Urlaub
schwärmen, kommt bei ihm eine ganz andere Erinnerung hoch: seine schlimme Zeit
im Gefängnis Brandenburg. Lange vor ihm war dort ein Nazi-Gegner inhaftiert,
der es später zu berüchtigter Berühmtheit brachte: Erich Honecker. Wenige Tage vor Kriegsende
wurde der junge Kommunist 1945 von Soldaten der Roten Armee befreit und stieg
1971 zum mächtigsten Mann der ostdeutschen Diktatur auf.
Die Stasi hatte überall ihre Finger im Spiel
Mit Gegnern seiner Politik verfuhr er bis zu seinem
Sturz 1989 so, wie die Nazis mit ihm: Er ließ sie ins Gefängnis stecken.
Manfred Wilhelms Vergehen bestand darin, im Freundeskreis und in Kneipen
politische Witze über das DDR-Regime erzählt zu haben. Dafür wurde er 1981
wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt
– und landete in Honeckers früherem Zuchthaus. Das durfte er 1985 nur deshalb früher
verlassen, weil die Bundesrepublik ihn aus humanitären
Gründen freikaufte. Mit dieser massenhaft betriebenen Form des
Menschenhandels kassierte die finanziell chronisch klamme DDR Millionen
dringend benötigte Devisen.
Manfred Wilhelms Schicksal steht stellvertretend für
viele andere. Mindestens 170.000 politische Gefangene landeten während 40
Jahren DDR-Diktatur in Gefängnissen. Der Knast im idyllisch zwischen Wald und
Wasser gelegenen Brandenburg an der Havel westlich von Berlin gehörte mit bis
zu 3500 Häftlingen zu den vier größten. Unter welch unwürdigen Bedingungen die
Insassen eingesperrt, welchen Schikanen sie ausgesetzt waren – all das hat der
Historiker Tobias Wunschik für seine über 1000 Seiten dicke Studie "Honeckers
Zuchthaus" analysiert.
"Alter, wat hast'n wieda erzählt?"
Zeitzeugen wie der 68-jährige Manfred Wilhelm waren
dabei sehr hilfreich, aber der Löwenanteil des Materials stammt aus Akten der
DDR-Geheimpolizei. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), kurz Stasi,
führte im politischen Strafvollzug Regie. Die Häftlinge wurden systematisch
gegeneinander ausgespielt. Bis zu zwölf Prozent waren nach Wunschiks
Erkenntnissen Stasi-Spitzel. Politische Gefangene seien dabei gegenüber
Kriminellen benachteiligt worden, "ohne, dass sie durch Fehlverhalten
Anlass geboten hätten".
Was das bedeutete, hat Manfred Wilhelm in Brandenburg
oft am eigenen Leib erfahren. Beim sogenannten Zählappell auf dem
Gefängnis-Flur, zu dem alle Insassen antreten mussten, sei er von verurteilten
Schmugglern oder Mördern "körperlich" traktiert worden. Wenn der
gelernte Schlosser im breitesten Berliner Jargon von seiner Leidenszeit
erzählt, klingt das mitunter harmloser, als es in Wirklichkeit war. Etwa wenn
ihn seine Mithäftlinge verdächtigen, ein Stasi-Spitzel zu sein: "Alter,
wat hast'n wieda erzählt?" ("Was hast du wieder
erzählt?")
Kontaktverbot für katholischen Gefängnispfarrer
Das Misstrauen untereinander war groß. Sich mal mit
Kriminellen unter den Häftlingen über persönliche Probleme zu unterhalten, sei
sehr schwierig gewesen, erinnert sich Manfred Wilhelm. Um die tägliche
Monotonie, die Anfeindungen und Verdächtigungen zu überstehen, legte er sich
eine Strategie zurecht: positiv denken. "Was hast Du schon erlebt? Wovon
träumst Du für die Zukunft?" Und um wenigstens eine vage Vorstellung vom
Leben außerhalb der Gefängnismauern zu bekommen, hörten die Häftlinge mit
selbst gebastelten Miniaturradios heimlich Programme aus dem Westen.
Viele Häftlinge in Erich Honeckers einstigem Knast und
den anderen DDR-Gefängnissen verzweifelten an den Zuständen. Mindestens 500
nahmen sich das Leben. Wie groß die seelische Not war, erlebte der katholische
Gefängnispfarrer Johannes Drews. Ab 1988 durfte er in Brandenburg einmal
im Monat zum Gottesdienst einladen. Persönliche Gespräche mit Gefangenen waren
offiziell verboten. Doch darüber setzte er sich hinweg. Drews war
"innerlich sehr motiviert" – auch aus familiären Gründen. Die
sowjetischen Besatzer hatten seinen Großvater von 1945 bis 1948 im früheren
Nazi-Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert.
Der Seelsorger konnte sich also ganz gut vorstellen,
wie sehr manche Methoden der Unterdrückung zu DDR-Zeiten denen der Sowjets und
der Nationalsozialisten ähnelten. Um die Isolation der Gefangenen wenigstens
ein bisschen zu durchbrechen, begrüßte er sie bei seinen Gottesdiensten per
Handschlag und berichtete ihnen von den Veränderungen im Land. In den Straßen
der DDR protestierten im Herbst 1989 Hunderttausende für politische und
gesellschaftliche
Veränderungen.
Häftlinge veranstalten eine Pressekonferenz
Nach dem Mauerfall am 9. November gab es
schließlich kein Halten mehr. Der Mut war größer als die Angst – auch im
Gefängnis Brandenburg. Vier Wochen später, am 5. Dezember, erzwangen die
Inhaftierten eine Pressekonferenz. Für Pfarrer Johannes Drews ein
"unvergesslicher Tag". Die Gefangenen zeigten ihm ihre Zellen, in
denen sie oft zu zehnt oder mehr eingepfercht waren: Etagenbetten, wenige
Stühle, eine Toilette ohne Trennwand.
Wenn Johannes Drews zurückblickt auf seine Erlebnisse
im Gefängnis Brandenburg vor 30 Jahren, kommt ihm zuerst ein Gedanke: "Wir
vergessen so schnell und so leicht." Um dagegen anzukämpfen, empfiehlt er
ein "Nachdenken über Recht und Gesetz und Gerechtigkeit". Das
Wichtigste aber sei "Zuwendung" – den Menschen gegenüber. Die gab es
im Gefängnis Brandenburg wie in jedem anderen bestenfalls im Verborgenen. Der
ehemalige Häftling Manfred Wilhelm drückt es so aus: "Was sie selber in der
Nazi-Zeit erfahren haben, haben sie in der DDR übergestülpt." Er meint
damit Nazi-Opfer wie Erich Honecker, der später zum Täter wurde.
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